Dem Dunkel der Vergessenheit überlassen

Dem Dunkel der Vergessenheit überlassen

Dem Adelsgeschlecht der Ulner von Dieburg begegnet man in Weinheim zwar bereits im 14. Jahrhundert, doch steht seit der grundlegenden Untersuchung von Ernst Fischer seit 1903 fest: „Die Weinheimer Hospitalstiftung. Keine ursprünglich Ulner’sche Stiftung“.

Die heute noch gängige Bezeichnung „Ulner Kapelle“ spiegelt die Jahrhunderte alte Darstellung der Familie Ulner wieder, die Kapelle mit dem Spital am unteren Marktplatz gehe auf eine Stiftung der eigenen Vorfahren zurück. Das ist unzutreffend.

Über die Entstehung von Kapelle und Hospital gibt es eine lateinisch verfasste Urkunde des Jahres 1368 eindeutige Auskunft. Eine in Worms lebende Gott geweihte Frau (Deo devota) aus der Familie des Schultheißen Johann von Weinheim, vermutlich seine Schwester, beauftragt ihn, an Stelle der von der Familie einst errichteten Holzkapelle in der Neustadt aus dem von ihr hinterlassenen Vermögen nach ihrem Tod eine solche aus Stein zu errichten.

Ihr Bruder realisiert den Auftrag und lässt durch Hinzufügung eigener Mittel Wand an Wand mit dem Gotteshaus ein Armenspital (hospitale pauperum) errichten. Es ist in den Kirchenraum hinein durch Arkaden geöffnet, die es den Insassen ermöglichen – sitzend oder liegend – an der sakralen Handlung teilzunehmen.

Johann hat, wie die Unterzeichnungen der Urkunde bezeugen, die Zustimmung der zuständigen Behörden erhalten.

Zur Erläuterung:

1. Die Stifter-Familie
Vom Adelsgeschlecht der Ulner ist 1368 keine Rede. Gebet und Gedächtnismessen sollen dem Seelenheil der Stifter Hildegund und Johann zugute kommen. Dieses Gedenken geht nicht ohne Zutun der nachfolgenden Ulner verloren, die ein (vielfach belegtes) Interesse daran haben, die Stiftung auf die eigenen Vorfahren zurückzuführen. Eine Veruntreuung? Objektiv ja. Irrtum oder Absicht lassen sich längst nicht mehr unterscheiden.

2. Deo devota
Es handelt sich bei dieser Formulierung um eine Umschreibung für Begine. Beginen sind Frauen der religiösen Armutsbewegung im Geist des Franziskus von Assisi, die aus allen Ständen kommen. Sie leben einzeln oder in Gemeinschaft außerhalb des Klosterwesens, verpflichten sich auf Zeit, nicht durch „ewige Gelübde“ wie die Klosterfrauen, zu Armut und Ehelosigkeit, arbeiten in der Krankenpflege und verdienen ihren Lebensunterhalt durch Nähen und andere Handarbeit. Austritt und Eheschließung sind jederzeit möglich. Das Verfügungsrecht über das mitgebrachte Vermögen bleibt erhalten. Hildegund von Weinheim besitzt in Worms ein eigenes Haus apud Mineres fratres (beim Franziskanerkloster).

So erklärt sich, warum sie ihrem Bruder ein Vermögen hinterlassen kann. Der Bau des Armenspitals, den dieser veranlasst, ist ganz in ihrem Sinne. Auch sie hat, wie die Beginen allgemein, in der Armen- und Krankenpflege gearbeitet.

Warum wird sie in der Urkunde Deo devota und nicht geradezu Begine genannt? Weil diese Bewegung innerkirchlich umstritten, zeitweilig sogar verboten (1311) war und daher die Schwester im Hinblick auf den prominenten Bruder nicht risikolos als Begine bezeichnet werden kann.

3. Der Schultheiß ist oberster Gerichtsherr (nicht Bürgermeister!) am Ort im Auftrag des Landesherrn im Heidelberger Schloss, des Pfalzgrafen bei Rhein. Auf die Pfalzgrafen geht die Gründung der Neustadt Weinheim um die Mitte des 13. Jahrhunderts zurück.

4. Das Spital (in Weinheim, ursprünglich einstöckig), ist im Mittelalter Sammelort für Kranke, Hilfs- und Pflegebedürftige sowie Arme und darf nicht vom späteren Krankenhaus her verstanden werden. Es hat nicht mehr als zehn bis zwanzig Insassen. Ein medizinisches System gibt es nicht. Das Leiden wie auch die Heilung kommen von Gott. Die Öffnung zum Kirchenraum (Arkaden!) hat hierin ihren Grund.

5. Die Zeit legt uns nahe, die Entstehung der Kapelle am unteren Marktplatz wie auch der Kapelle beim nahegelegenen Deutschordenshaus, etwa zur gleichen Zeit entstanden, aus ihren leidvollen Umständen zu verstehen. Um 1348/49 wütet in Europa die Pest und mit ihr der Wahn, bei der Suche nach den Schuldigen die Juden zu verfolgen. Über zweihundert jüdische Gemeinden werden in Deutschland vernichtet, auch die jüdische Gemeinde in Weinheim.

Der Kirchenbau als Ausdruck der Not und des Dankes fürs Überleben? Das liegt nahe, dem Geist der Zeit gemäß. Im Rückblick auf die Stiftung von Kapelle und Hospital am Marktplatz der Neustadt Weinheim bleibt festzuhalten: Das Gedächtnis der eigentlichen Stifter wurde dem Dunkel der Vergessenheit überlassen. Es soll hier immerhin vergegenwärtigt werden.