
Ort der Begegnung und Toleranz: Die „Ulner Kapelle“ am Fuß des Weinheimer Marktplatzes wurde grundlegend saniert und zu einer „Event-Location“ umgebaut.
Genau 29 steinerne Treppenstufen führen vom Marktplatz hinunter in eine neue Welt. „Exklusiv, geschichtsträchtig und hoch modern“: So sollte die sich hier befindende Ulner Kapelle nach ihrer Sanierung und einem millionenschweren Umbau werden. So titelte auch die RNZ im August dieses Jahres nach einer Besichtigung der Baustelle zwischen Zentimeter hohen Staubschichten, einem Gewirr aus Gerüsten, dicken Holzbalken, schweren Sandsteinplatten und Arbeitsgeräten.
Im März 2011 hatte das Unternehmer-Ehepaar Maria Bouvier-Noor und Thomas Noor das aus dem 14. Jahrhundert stammende Gebäude von der katholischen Gemeinde St. Laurentius erworben, um daraus Weinheims „Eventlocation Nummer Eins“ zu machen. Wie viele andere Menschen mochten auch die Zeitungsleute damals nicht glauben, dass die Mammutaufgabe wie von den Bauherren und dem Architekten Constantin Görtz angekündigt, noch vor Ende dieses Jahres abgeschlossen sein würde. Sie alle ließen sich dieser Tage eines Besseren belehren.
„Raum für Ruhe und Kunst“
Am vergangenen Sonntag wurde das ehemalige „Ulner Stift“ mit dem benachbarten früheren Hospizgebäude glanzvoll seiner neuen Bestimmung übergeben: „Als Ort der Besinnung und Toleranz, als Raum für Ruhe und Kunst, aber auch als Ort fröhlichen und geselligen Miteinanders“.
„Glauben leben in tiefem Respekt vor anderen Religionen“: Vor allem dies haben sich Maria Bouvier-Noor und Thomas Noor auf ihre Fahnen geschrieben. Bilder an den Wänden symbolisieren die vier großen Weltreligionen, das Christen- und das Judentum, den Islamundden Buddhismus, die hier „Tür an Tür beieinander wohnen“ sollen.
Jede Religion habe ihre Berechtigung, solange sie nicht radikal sei, machte Dr. Markus Weber die von der „Ulner Kapelle“ ausgehende Botschaft an Lessings „Ringparabel“ fest: „Toleranz gegenüber Andersgläubigen, Angehörigen anderer Völker und allen irgendwie Andersartigen“. Vorurteile seien nur dann überwindbar, wenn man Andere achtet und erkennt, dass Einsichten und Einstellungen nicht nur auf eine bestimmte Art erworben werden können.
Vom Abschluss des Kaufvertrages über den Baubeginn im März 2012 bis zu dessen Vollendung war es eine lange Reise gewesen. In der es galt, Tradition mit moderner Technik zu vereinigen, so Thomas Noor: „Aber jetzt sind wir da“.
Die erste Aufgabe bestand darin, die tragenden, aber nicht für jedermann sichtbaren Bauteile zu sichern, zu ergänzen und zu ertüchtigen, gewährt Architekt Constantin Görtz Einblicke ins Detail. Der Dachstuhl des Langhauses, insbesondere aber der Bereich über dem Kreuzrippengewölbe des Chorraums, sollte auf Dauer die künftigen Nutzungen zulassen und zugleich die darunter liegende Raumschale des Kirchenschiffes schützen.
Mehr als 200 Tonnen Stahl wurden per Hand in die Dachkonstruktion eingebracht. Sie übernehmen jetzt die Statik des historischen Sprengwerkes. Ein Baukran konnte wegen der Enge der Altstadt nicht gestellt werden. So mussten auch mehr als 1600 Säcke Putzmaterial für die Innen- und Außenwände per Sackkarre herangeschafft werden. Neue, mit Schiefer verkleidete Dachreiter (Gaupen) zieren die Dachflächen. Eine massive, mit Stachetengeländer versehene Eichentreppe erschließt die einzelnen Geschosse.
„Lasst die Steine sprechen“
„Das Gebäude selbst bestimmte unseren Weg“, beschreibt Görtz den „von Respekt vor alten Materialien geprägten Umbau“. Ursprünglich geplant war, den Boden der Kirche und die darunter verlegte Fußbodenheizung mit neuen Sandsteinplatten zu belegen. „Im Dachstuhl aber fanden wir unter einer dicken Staubschicht mehr als 3800 Cottoplatten“. Jede einzeln handgefertigt und größtenteils noch in gutem Zustand.
Jede einzelne Platte wurde unter der Aufsicht von Restaurator Hans-Dieter Zopf gesichert, von Hand gereinigt und mit kleinen Bürsten einzeln gewachst. Die Idee mit den Sandsteinplatten wurde verworfen, an deren Stelle die Cottoplatten verlegt. „Einzeln eingemörtelt und nochmals von Hand gewachst“.
Viel Wert legten Bauherren und Planer in Absprache mit der Denkmalschutzbehörde darauf, unter dem Motto „Lasst die Steine sprechen“ bestimmte historische Bauteile wieder sichtbar zu machen und Einblicke in zeitlich ineinandergreifende Bauabläufe der vergangenen Jahrhunderte zu gewähren.
Für Noor und Görtz darüber hinaus besonders wichtig: „Die Verknüpfung des Hospizgebäudes mit dem Kirchenschiff“. Gelungen ist dies durch die Öffnung des vermauerten gotischen Sandsteinbogens in der Südwand des Langhauses. Der hier neu entstandene Luftraum gibt jetzt den Blick frei auf die früher frei liegende Kirchenfassade. Erwähnenswert sind auch die historischen Glasfenster, die neu in Blei gefasst und von außen mit einer Schutzverglasung versehen wurden.
„Geschichtliches“ steuert Thomas Noor bei. So hieß das Gotteshaus nach dem Heiligen Wilhelm von Malavalle ursprünglich „Wilhelmkapelle“. Der Patron der Klempner ließ sich der Legende nach in eine nicht mehr abnehmbare Rüstung einschmieden. Anschließend pilgerte er 1145 mit einem darüber gelegten Bußgewand nach Rom, ins Heilige Land und nach Santiago de Compostela. Nach seiner Rückkehr ließ er sich 1153 in der Einöde von Malavalle, einem oberhalb von Castiglione della Pescaia gelegenen Bergtal nieder. Nach seinem Tod 1157 entstand in Malavalle eine Eremitengemeinschaft, der Wilhelmiten-Orden, der sich der Krankenpflege widmete. Papst Innozenz III. sprach Wilhelm 1202 heilig. Eine erst kürzlich auf dem Dachboden der Laurentiuskirche gefundene Statue des Heiligen Wilhelm steht jetzt im Chorraum der „neuen“ Ulner’schen Kapelle.
Deren weitere Geschichte setzt sich mit Johann, Schultheiß von Weinheim, und seiner Schwester Hildegund, einer sogenannten „Begine“, fort. Die Bezeichnung Begine gilt seit dem 12. Jahrhundert für wohlhabende alleinstehende Frauen. Diese führten ein Leben in Wohn- und Arbeitsgemeinschaften mit gleich gesinnten Frauen außerhalb von Ehe und Kloster und lebten „mit beiden Füßen auf der Erde und einer Hand im Himmel“. Hildegund hinterließ ihren Nachlass mit dem Auftrag an ihren Bruder, an Stelle der bisherigen Holzkirche eine Steinkirche zu erbauen. Johann baute diese Kirche und gleich noch das angrenzende Armenspital dazu. Noor ließ die Stifterin in Illusionsmalerei in ein „blindes“ Fenster einarbeiten. Schultheiß Johann sieht sich in einem Epitaph (Gedenkstein mit Inschrift) verewigt. 1875 erfolgte ein erster Generalumbau der Kapelle mit dem Versuch der Trockenlegung des Gebäudes. Ein weiterer Versuch 1967 scheiterte erneut: „Es blieb feucht“. Um die Jahrtausendwende wurde der Zustand der Kapelle immer verheerender. „Irgendwann wäre sie implodiert“, so Noor. Der Unternehmer erwarb das Gebäude von der Kirchengemeinde und der Ulner’schen Stiftung und machte sich an die Sanierung.
Über deren Gelingen sich neben dem Stiftungsratsvorsitzenden Karl-Hermann Schütz, Alt-Landrat Dr. Jürgen Schütz und dem Historiker Karl-Josef („Kasef“) Kropp auch Reinhold Wagner freute. Letzterer in seiner Eigenschaft als langjähriger Organist und Chorleiter von St. Laurentius.
„Ein Meisterwerk“
Ob Hochzeit, Kunstausstellungen, Konzerte, Kabarett-Abende, Privat- oder Unternehmensveranstaltungen: „In diesen Räumen ist alles möglich“, sagt Thomas Noor. Ein kobaltblauer Himmel mit 1001 vergoldeten Sternen über dem Chorraum zählt ebenso zu den „Hinguckern“ wie ein aus dem Jahr 1909 stammendes, aufwendig restauriertes und jetzt wieder bespielbares Harmonium.
Illusionsmalerei an der Decke und im Kirchenschiff, Abbildungen der Gottesmutter Maria und von Maria Magdalena der französischen Künstlerinnen Amaryllis Bataille und Flores Tampierre sowie der „Lotus-Tempel der Religionen“ in Neu Delhi der Hirschberger Malerin Gerdi Gutperle runden das gelungene Ambiente des Ganzen ab, wozu auch eine funktionierende Küche gehört.
Unwidersprochen bleibt das Lob von Oberbürgermeister Heiner Bernhard. In diesen Räumen atme die Geschichte, würden Menschen und Ereignisse im Kopf des Besuchers lebendig und blieben präsent, ohne dass die Vergangenheit wie eine Last auf den Schultern liege: „Das Ganze ist ein Meisterwerk geworden. Weinheim ist um ein Kleinod reicher geworden.“
Rhein-Neckar-Zeitung, 19.12.2013
Bilder: Kreutzer